Psychiatrie trifft Architektur
Jeder dritte Mensch erkrankt in seinem Leben an einer psychiatrischen Erkrankung und seit Jahren steigt die Zahl der psychiatrischen Diagnosen an. Die Fachwelt ist uneins darüber, ob diese Zunahme auf ein verändertes Diagnose- und Behandlungssystem zurückzuführen ist und aus diesem Grund die Inanspruchnahme steigt oder ob tatsächlich mehr Menschen psychiatrische Krisen erleben und einer therapeutischen Behandlung bedürfen. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass die weltpolitische Lage mit ihren aktuellen Krisen das Erleben und Sicherheitsgefühl der Menschen stark herausfordert. Damit verbunden steigt auch die Bedeutung von psychiatrischer Behandlung und der Räume, in denen Heilung stattfindet.
Herausforderung
Planen einer Psychiatrie
Was ist nun die planerische Herausforderung beim Planen einer Psychiatrie? Liest man Ausschreibungstexte für den Neubau einer Psychiatrie, so kann man den Eindruck gewinnen, dass es für Architekt:innen, die auf Gesundheitsbau spezialisiert sind, kein besonders komplexes Unterfangen ist: Das Raumprogramm ist überschaubar, es definiert die Anzahl und Größe der erforderlichen Räume, in einer Matrix sind wichtige Raumbezüge gezeigt. Es ergibt sich eine festgelegte Anzahl von Stationen mit einer üblichen Bettenbelegung. Der Leitstelle kommt eine besondere Bedeutung, sie muss zentral und an gut sichtbarer Stelle platziert werden, in der Regel wollen alle Beteiligten Arbeits-, Aufenthalts- und Therapieräume mit viel Tageslicht. Oftmals ist es Wunsch, dass von den Stationen Zugang zu einem Außenbereich möglich ist und dass die Wege zwischen Stationen und weiteren Bereichen, wie Therapiebereichen, kurz sind.
Architektur, Atmosphäre, Ausdruck
Was in den Ausschreibungstexten jedoch kaum deutlich wird, ist die gewünschte Architekturqualität, ist die Atmosphäre, die durch die umgebenden Formen, durch raumbegrenzende Flächen und Materialität erzeugt wird, ist der Kontext, in dem das Gebäude entsteht. Architektur ist mehr als die Aneinanderreihung von Zimmern an einem Flur mit zentraler Leitstelle. Architektur ist Ausdruck und Atmosphäre, Reaktion und Resonanz. Sie bildet den Raum für menschliche Begegnungen und formt damit soziale Interaktionen und individuelles Befinden. Sie löst Emotionen aus und erfüllt Bedürfnisse. Bei der Bauaufgabe einer Psychiatrie wird ein Ort geschaffen, der für Menschen in besonders vulnerablen Situationen ihres Lebens ein Raum sein sollte, der schützt, orientiert und unterstützt.
„Wir müssen Orte schaffen, die Sicherheit bieten und den Patient:innen helfen zu sich selbst zu finden.“
Prof. Linus Hofrichter
Geschäftsführer a|sh architekten
Mission
Orte der Heilung
Unsere Architekturprojekte für psychiatrische Einrichtungen sollen einen Beitrag für die qualitätsvolle Versorgung leisten und der Stigmatisierung entgegenwirken. Sie sollen kontextspezifische Lösungen darstellen und Orte der Heilung sein. Neben unseren Projekten haben wir mit unserem Buch „Soul in Space – Psychiatrie trifft Architektur“ einen multiperspektivischen Beitrag dazu geleistet. Dieses Buch ist das Ergebnis einer jahrelangen Zusammenarbeit: Im Jahr 2012 wurde der Neubau des Alexius/Josef Krankenhauses in Neuss eröffnet, wo im Jahr 2004 die Krankenhäuser St. Alexius und St. Josef an einem Standort zusammengeführt wurden. Mit dem Neubau an der Nordkanalallee entstand durch ein einmaliges Zusammenspiel von Architektur, Gestaltung und moderner Therapieformen etwas Neues, das den traditionsreichen Charakter des Ortes bewahrt. Im Jahr 2022 wurde ein Erweiterungsneubau am Standort eröffnet.
Einflussfaktor Architektur
Wir sehen psychiatrische Einrichtungen als Ort, der für Menschen in tiefen Krisen in einer bedeutungsvollen Zeit in ihrem Leben einen Schutzraum bietet, einen Raum, der Regeneration und Heilung darstellt, ein Raum, in dem Menschen durch fachlich-medizinisch-therapeutische Behandlung wieder zu Kraft kommen und sich für ihr Leben stärken. Zwar wird die gebaute Umwelt üblicherweise nicht in erster Linie als „Therapeutikum“ angesehen, so kommt ihr doch eine maßgebliche Rolle zu: Seit vielen Jahren belegen Studien, dass sich das gebaute Umfeld auf menschliches Verhalten, Wohlbefinden und Genesung auswirkt. Im biopsychosozialen Modell wird Architektur als eine Komponente der Umweltbedingungen dargestellt, die bei Entstehung aber auch Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen zu berücksichtigen ist. Menschen sind mehr oder weniger dauerhaft von gebauter Umwelt umgeben – wir können uns ihr kaum entziehen – und daher gilt es besonders bei Menschen hoher Vulnerabilität, die Umwelt so zu gestalten, dass sie Körper und Psyche bestmöglich unterstützt. Architektur ist Reaktion auf das Vorgefundene und Ausdruck von aktuellen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen. Architektur löst auch Resonanz aus, sie beeinflusst Befinden, Verhalten und soziale Interaktionen und ist Ausdruck gesellschaftlicher Haltung und ethischer Aspekte.
„Wir wollen den Patient:innen zeigen, dass sie hier sein dürfen. Es ist eine Umgebung des Zuhause seins. Man wird hier als Mensch empfangen.“
Daniël van den Berg
Partner-Architekt EGM architecten
Highlight
Soul in Space
Dies zu reflektieren und damit die Verantwortung der Architekturschaffenden zu verdeutlichen – dieser Herausforderung haben sich die vier Herausgeber:innen in dem multiperspektivischen Buch „Soul in Space“ gestellt. Das Buch soll die Entstigmatisierung und Öffnung des Themas vorantreiben. Es soll dazu beitragen, dass Architektur von einer rein baulichen Beschreibung losgelöst wird und stattdessen Architektur in der Komplexität von Mensch und Gesellschaft verorten und damit den gesellschaftlichen Diskurs bereichern. Es zeigt neben den wichtigen Diskussionen zeitgemäße Beispiele hoher Architekturqualität realisierter Projekte. Es wird aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Psychiatrie geblickt, aber mit dem gleichen Ziel im Fokus: durch einen ganzheitlichen Blick die Versorgung und Situation von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen zu verbessern. Der Verantwortung gerecht werden, die der Architektur innewohnt - das können Architekturschaffende nur im Dialog lösen. Das Alexius-/Josefkrankenhaus in Neuss ist ein gelungenes Beispiel dafür und das Projekt und das vorliegende Buch zeigen durch die eigene Entstehungsgeschichte, dass dieser Prozess möglich ist.
Informieren Sie sich
Fachtagung „Soul in Space" zum Buch mit den Herausgeber:innen
9. September 2022 im Zentrum für seelische Gesundheit Neuss
Hier finden Sie das Programm der Tagung.
Anmeldungen über soul_in_space@ ak-neuss.de
Bestellen Sie das Buch online.